Es war einmal...

Warum Märchen Groß und Klein auch heute noch faszinieren: österreichische Geschichten im Fokus

Die brennende Frage, ob Märchen denn zeitgemäß sind, muss man einem der bekanntesten Erzähler Österreichs naturgemäß nicht stellen. Die Frage, warum Kinder und Erwachsene auch im 21. Jahrhundert noch Geschichten brauchen, die über viele Generationen hinweg weitererzählt und irgendwann aufgeschrieben wurden, ist jedoch legitim. Und wird von Helmut Wittmann leidenschaftlich beantwortet: "Wie man aus schwierigen, ja schier unerträglichen Lebenssituationen erfolgreich wieder herausfindet, das zeigen uns die Heldinnen und Helden aus der Märchenwelt in unvergleichlicher Art und Weise. Märchen sagen nicht, dass alles gut ist, dass man sich mit dem Mittelmaß zufrieden geben soll; vielmehr lehren sie - ohne moralisierend zu sein -, nicht mit Kompromissen zu leben, sondern seine eigenen Wünsche und Ziele mit Bedacht zu formulieren und zu verfolgen." Märchen faszinieren uns, weil sie das Herz ansprechen, weil sie uns auf einer emotionalen Ebene begegnen. Märchen sind "zauberhaft" im wahrsten Sinne des Wortes und vermögen es, Kinder in ihrer magischen Phase ganz besonders zu erreichen. Weder kennen sie räumliche Grenzen noch welche in der Fantasie.

Blick für das Wesentliche

Dass man mit Märchen rasch auf das Wesentliche kommen kann, berührt Wittmann nach wie vor. Märchen erreichen junge wie ältere Menschen, die richtige Auswahl vorausgesetzt. "Natürlich sind nicht alle Texte für jede Altersgruppe geeignet", begegnet der passionierte Erzähler der anhaltenden Kritik, Märchen seien zu grausam und brutal. "Hier muss gut gewählt werden, aber auch kleine Kinder haben die Fähigkeit, zu reflektieren, wissen wie sich Glück anfühlt und dass dies kein permanenter Zustand im Leben ist." Der Kritik an Mord und Totschlag nimmt sich auch die bekannte deutsche Literatin Elke Heidenreich in ihrem neuen Buch "Hier geht's lang" an: "Kinder lesen Grausamkeiten ganz anders - Bestrafungen sind für sie nur die Bestrafungen, die sie selbst kennen, Schlimmeres malt sich ihre Phantasie nicht aus. Und dass alle Königssöhne, Köhlerskinder, Holzfällertöchter und armen Witwen Prüfungen über sich ergehen lassen müssen, um den rechten Weg zu finden oder erlöst zu werden, ist ein faszinierendes Motiv, dem das Kind sehr gut folgen kann, denn auch seine Welt ist voller Prüfungen und Irrtümer auf dem Weg, der der richtige sein soll." Heidenreich kommt dabei zu einem wunderbaren Schluss: "Fast immer wird im Märchen ja auch an Güte und Liebe appelliert, immer siegt das Gute, [...]."

Heimische Märchen in Buchform

Die Gebrüder Grimm und der Däne Hans-Christian Andersen fallen wohl als Erste ein, wenn es um das Thema Märchen geht. Helmut Wittmann, auf dessen Initiative und Beharrlichkeit übrigens auch die Aufnahme des Märchenerzählens in das nationale Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes der UNESCO zurückgeht, hat sich aber den österreichischen Märchen verschrieben. Nachzulesen ist das unter anderem in seiner Sammlung "Von Drachenfrau und Zauberbaum", die im Tyrolia Verlag erschienen ist. Besonders ans Herz legt Wittmann die Geschichte "Vom Zistl im Körbl", in dem ein armes Waisenmädchen dank Mut und Klugheit sein Glück findet. Wie auch der Bauer in "Für die Zweiunddreißig!", der König und Edelmänner überlistet und von seiner Weisheit überzeugt, womit Leserinnen und Leser bei den Tiroler Volksmärchen aus der beeindruckenden Sammlung der Gebrüder Ignaz und Joseph Zingerle angelangt sind. Wer sich in diese vertiefen will, ist mit dem Buch "Tiroler Märchen" der bekannten heimischen Erzählerin Frau Wolle bestens beraten, das wahre Schätze bereithält.

Klassisches in neuem Gewand

Der Rauheit und Direktheit der Märchen stellt die Wiener Künstlerin Julie Völk in ihrer umfangreichen Sammlung der "schönsten Märchen der Brüder Grimm" zarte, sanfte, meist sehr farbenfrohe Illustrationen gegenüber und verleiht so den Texten eine zusätzliche Ebene. Ihr Buch ist erst kürzlich erschienen und wendet sich an Märchenfans, die Dornröschen, Aschenputtel und Rapunzel in ungekürzter Version wiederentdecken wollen, aber auch offen sind für nicht ganz so bekannte Texte. Die Tatsache, dass alljährlich eine Vielzahl an Neuerscheinungen in den Buchregalen landet, in denen Märchenstoffe zu neuen Kleidern verarbeitet werden, beweist wie populär diese aktuell sind. Als Beispiel genannt sei das mittlerweile nur mehr antiquarisch erhältlichen Buch "Gretel und Hänsel und die Hexe im Wald", in dem der vermeintlich klassischen "bösen Hexe" eine komplett andere Rolle zugedacht wird. "Ein Esel hatte ohne Klagen / wohl tausend Säcke Mehl getragen. / Doch als er in die Jahre kam, / da fand der Müller ihn zu lahm,...": Dass Grimms Märchen (hier unverkennbar jenes der Bremer Stadtmusikanten) auch in Versen funktionieren, zeigt eine Neuerscheinung aus dem Knesebeck Verlag, für die vierzehn sehr bekannte Geschichten - vom Froschkönig bis zu Hans im Glück - in Reimform in Szene gesetzt werden und LeserInnen wie ZuhörerInnen schlicht und ergreifend verzaubern.

 

Alle Bücher auf einen Blick

Helmut Wittmann, Anna Vidyaykina, Von Drachenfrau und Zauberbaum. Das große österreichische Märchenbuch, Tyrolia 2020.

Frau Wolle, Irmingard Jeserick, Tiroler Märchen, Tyrolia 2016.

Zur Zeit, wo das Wünschen noch geholfen hat. Die schönsten Märchen der Brüder Grimm. Illustriert von Julie Völk, Gerstenberg 2021.

Cornelia Boese, Daniela Bunge, Und wenn er nicht gestorben ist, kann's sein, dass er sie heut noch küsst. Grimms Märchen in Reimen, Knesebeck 2021.

Sigrid Laube, Maria Blazejovsky, Gretel und Hänsel und die Hexe im Wald, Jungbrunnen 2006 (antiquarisch erhältlich).

Elke Heidenreich, Hier geht's lang! Mit Büchern von Frauen durchs Leben, Eisele 2021.